Ein Engel schenkt Halt und Hoffnung

Offene Ohren für Eltern und Kinder: Seelsorgerin und Diakonin Anja Öhring begleitet am Klinikum Nürnberg (Süd) Familien in einer schwierigen Zeit. Mit dem Verein Klabautermann besteht seit vielen Jahren in der Nachsorge eine enge Zusammenarbeit mit der Klinikseelsorge. Sebastian Müller hat sich Ende 2022 mit Klinikseelsorgerin Anja Öhring zu einem Gespräch getroffen.

Wir haben gerade einen schön gestalteten Schaukasten der Seelsorge im Eingangsbereich des Klinikums gesehen. Welche Idee steckt dahinter?

Den Schaukasten haben wir von der Seelsorge aus als Adventskalender geplant……

Jeder und jede der Kolleginnen und Kollegen gestaltet ein anderes „Türchen“. Die Patientinnen und Patienten können dann jeden Tag im Advent vorbeigehen und täglich einen neuen Impuls entdecken. Wir möchten da etwas Ersatz für den Adventskalender daheim bieten, kleine „Lichtblicke“ in den Alltag bringen und Atmosphäre schaffen. Es ist auch eine große Aufgabe der Seelsorge, Atmosphäre zu schaffen.

Der Verein „Klinikseelsorge Notaufnahme e.V.“ am Klinikum Nürnberg Süd hat ja in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen gefeiert. Du bist Teil des engagierten Dreier-Teams. Welche Aufgaben habt ihr?

Die Gründung des Vereins hing ja stark damit zusammen, dass auch mehr Seelsorge in der Notaufnahme stattfinden musste. Man hat den Verein gegründet, um die Notaufnahme mit Seelsorgerinnen und Seelsorgern besser zu besetzen. Ich habe im Jahr 2007 meine Arbeit angefangen. Zunächst war ich als Elternzeitvertretung auf zwei neurologischen Stationen tätig, bevor ich im September 2008 mit der Seelsorge in der Nachsorge des Eltern-Kind-Zentrums startete. Ich habe immer mit großen Ohren zugehört, was mein Kollege mit den Familien in der Kinderklinik erlebt hat. Damals stellte ich mir die Frage: Was passiert, wenn die Familien nach Hause gehen? Da ist ja oft nicht alles gut. Da kam dann der Gedanke, dass Projekt Seelsorge in der Nachsorge zu wagen und haben den Kontakt zum Klabautermann e.V. gesucht, damit man das auf gemeinsame Füße stellt. Und so ist die Seelsorge in der Nachsorge entstanden. Es musste nicht extra ein neuer Verein gegründet werden, sondern man hat es an den Verein Klinikseelsorge Notaufnahme e.V. angeschlossen. Wir fühlen uns aber als „Dreier-Team“ gemeinsam mit den anderen Kolleginnen und Kollegen der Klinikseelsorge als „ein großes Team“. Weitere Infos im extra Artikel zum Jubiläum: https://r2023.klabautermann-ev.de/offene-ohren-seit-25-jahren/

Welche Aufgaben hast Du als Seelsorgerin?
Ich begleite die Familien ambulant nach ihrem Aufenthalt hier. Ich begleite Familien, die ein Kind haben, das mit einer chronischen Erkrankung nach Hause geht, mit einer Behinderung nach Hause geht. Oder auch Familien, deren Kind eine begrenzte Lebenszeit hat. Und ich begleite Familien, deren Kind in der Klinik verstorben ist.

Wie kommen die Kontakte zu den Familien zustande?
Meine Kollegin Frau Gabriele Nüßlein begleitet als Seelsorgerin die Familien in der Kinderklinik während des stationären Aufenthalts des Kindes. Anschließend kommt es in einigen Fällen dazu, dass etwa noch nicht ausreichend aufgearbeitet ist, dann übernehme ich die seelsorgerliche Begleitung der Familie nach der Entlassung nach Hause. Gerade bei Traumatisierungen der Eltern. Ich arbeite auch aktiv mit der Intensivstation zusammen und frage, ob es Bedarf an seelsorgerlicher Begleitung bei Eltern gibt. Auch über den Bunten Kreis Nürnberg, Familiennachsorge Klabautermann e.V. kommen Kontakte zustande. Schön ist, dass mir der Verein Klabautermann ein Auto zur Verfügung stellt.

So komme ich gut zu den Familien nach Hause. Das hat sich zu Corona-Zeiten stark verändert. Es gibt unterschiedliche Variationen. Man muss das Risiko abwägen – es gibt auch die Möglichkeit zu telefonieren, per Zoom-Konferenz oder bei einem Spaziergang draußen ins Gespräch zu kommen. Ich bin überrascht, wie gut es oft per Telefon klappt. Ich werde meistens auch von Ärzten, wie z.B. Dr. Schäfer, den Familien vorgestellt und dabei wird vermittelt: Hier ist ein Angebot von Frau Öhring von der Seelsorge, einer Spezialistin, die schon viele Familien begleitet hat, die in einer ähnlichen Situation wie Sie waren. Das ist ein schöner Türöffner. Einladend. Menschen haben Gelegenheit, mich als Person kennen zu lernen. Die Familien haben dann die Gelegenheit zu entscheiden: Wollen wir das oder wollen wir das nicht?

Begleitest Du die Eltern – und auch die Kinder?
Das kommt auf das Alter der Kinder an. Gerade in der Corona-Zeit hat sich da viel verändert. Meine Stelle ist nie gleich geblieben, das war immer ein Wandel. Im zweiten Corona-Jahr war es oft der Fall, dass Kolleg*innen Familien in der Rufbereitschaft hatten, wo ein Eltern-Teil verstorben ist. Es gab ganz wenige Angebote für die Kinder, weil alles heruntergefahren wurde. Da gab es oft die Frage: Kannst Du das Kind begleiten? Und das habe ich dann auch gemacht. Das ist in diesem Jahr weniger geworden – aber in dem zweiten Corona-Jahr (2021) hatte ich sehr viele Kinder. Oft ist es ein sehr voll gepackter Rucksack, den so kleine Schultern dann tragen müssen. Also ja, ich begleite auch die Kinder – aber meisten sind es doch die Eltern.

Begleitest Du auch die gesunden Geschwisterkinder?
Ich begleite sehr oft Geschwisterkinder von Sternenkindern (Kinder, die verstorben sind). Gerade für diese „großen“ Brüder und Schwestern ist es sehr wichtig, dass jemand ein offenes Ohr für sie hat. Haben sie doch oft die Phantasie, sie könnten schuld sein am Tod ihres Geschwisterchens.

Wie gehst Du mit dramatischen Fällen um. Wie gehst Du damit um?
Wenn so ein Ruf kommt, bekommen wir nur eine „Überschrift“. Man fragt sich: Was erwartet mich? Wie geht es den Eltern? Oft war es dann gar nicht so in der Klinik wie man es erwartet hat. Unser Team ist sehr erfahren. Wir reflektieren unsere Erlebnisse. Ein Kollege hat mir in meiner Anfangszeit geraten, einfach mit Musik im Auto herzufahren und mir keine Gedanken zu machen, sich das nicht auszumalen. Es macht keinen Sinn, sich auszumalen, was einen erwartet. Ich gehe mit dem Gefühl in ein seelsorgerliches Gespräch, dass ich von Gott begleitet bin. Wir haben zudem eine professionelle Haltung.

Mit welchen Materialien arbeitest Du? Ich sehe hier ein kleines Engelchen
Wir versuchen, mit Kleinigkeiten Zeichen zu geben, Atmosphäre zu schaffen. Du bist gehalten. Wir sind mit da. Ich habe hier ein Engelchen (siehe Foto) aus Stoff. Wir schenken ja den Eltern sonst auch gerne den Bronze-Engel, der bewusst schwer ist. Für Kinder finde ich den flauschigen Engel besser geeignet. Es ist ein tolles Engelchen. Ich bin von der Grundschule meines Sohnes angefragt worden, mit den Kindern die Corona-Zeit aufzuarbeiten. Viele Kinder sind durch Corona sehr belastet. Ich habe mich mit der Pfarrerin unterhalten, die den Religionsunterricht anbietet. Dann haben wir ein Vier-Wochen-Projekt gemacht „Wie man zum Engel wird“. Das war der Einstieg. In der zu Grunde gelegten Geschichte geht es darum, dass ein Krippenspiel eingeübt wird und ein Junge den Wirt spielen soll. Er bringt es aber nicht übers Herz zu sagen: Nein, ich habe keinen Platz. Er sagte statt dessen: Ja klar, kommt rein. Das ist nicht im Drehbuch zum Krippenspiel vorgesehen – stattdessen bekommt der Junge nun die Rolle eines Engels. Sein „Halleluja“ist am lautesten zu hören“. Mit den Kindern haben wir dann weiter überlegt: Der Engel muss ja nicht immer der sein mit zwei Flügeln. Jeder kann für einen anderen zum Engel werden – eben wie der Junge in dem Beispiel, der Maria und Josef nicht vor der Tür stehen ließ. Die Lehrer und Schüler haben dann überlegt, wie sie zum Engel für unsere kleinen Patienten werden könnten. Die Schule hat sich bei mir bedankt, indem ich einen Korb gefüllt mit Plüschengeln für die Kinder hier auf den Stationen bekam. Seitdem schenken diese Engel so manchem kleinen Patienten Trost und Hoffnung.

Welche Themen-Palette bringen die Familien mit in die Seelsorge?
Oft sind es dramatische Unfälle. Es sind Fälle, die die Seele belasten. Zum Beispiel wenn ein Kind stirbt, die Geburt nicht problemlos verläuft, ein Kind mit einer chronischen Erkrankung oder einer Behinderung zur Welt kommt. Eltern brauchen dann Wegbegleitung, sich von dem Gedanken zu verabschieden, ein gesundes Kind zu haben. Oder gar verarbeiten müssen, dass ihr Kind lebensverkürzend erkrankt oder verstorben ist. Die Zeit in der Klinik bietet oft nicht genügend Raum, das Erlebte aufzuarbeiten.

Wie können Eltern mit der Situation umgehen, etwa, wenn das Kind eine Behinderung hat?

Familien geben sich oft selbst auf und leben nur noch für das Kind. Die Eltern dürfen sich nicht selbst vergessen und müssen auch auf sich selbst achten. Wir machen den Eltern Mut, dabei auch kein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn die Eltern gestärkt sind, können sie besser für das Kind da sein.

Was hat es mit der kleinen Kerze auf sich?
Das ist eine kleine Taufkerze – wir bieten im Klinikum auch Not-Taufen an. Diese Kerze gestaltet unsere Sekretärin. Wir dürfen sie hier im Haus nicht anzünden, aber geben sie den Eltern mit und zuhause können die Eltern dann dem Geschehenen gedenken und die Kerze dort anzünden. Ich habe die Kerze mitgebracht, da das Gestalten von einer Kerze auch für meine Arbeit wichtig ist. Eine Kerze zu gestalten – auch mit den Geschwisterkindern – kann für Familien eine große Bedeutung haben. Kindern hilft es, wenn sie während des Erzählens handwerklich etwas tun können. Bei Eltern, die ein Kind verloren haben, ist die Kerze ein Zeichen dafür: Das Kind ist mit hier. Meist steht sie während unserer Gespräche mit auf dem Tisch und wird auch zum Candlelight-Gottesdienst mitgenommen.

Welche Rituale gibt es noch für Eltern, die ein Kind verloren haben?
Ich frage die Eltern gerne, ob sie ein Foto des verstorbenen Kindes haben. Viele Eltern nutzen die Möglichkeit von „Sternenfotograf*innen“ und lassen ihr verstorbenes Kind fotografieren. Die Eltern können von ihrem toten Kind so viele Fotos auch mit dem Handy machen wie sie möchten. Wir ermutigen auch dazu. Auch, dass sie sich die Zeit des Abschieds nehmen. Diese Eltern sind ja trotzdem Eltern geworden und sind stolz und möchten ihr Kind zeigen. Doch wem kann man das Bild eines verstorbenen Kindes zeigen. Ich schaue mir diese Bilder gerne mit an. Das Lieblingsbild hat bei unseren Gesprächen dann auch immer einen Platz am Tisch gemeinsam mit der bereits geschilderten Kerze. Oft gestalte ich mit den Familien auch ein Buch. Das kann ein leeres Fotoalbum sein, welches wir gemeinsam schön gestalten. Mit Platz für die Bilder. Vielleicht einem Briefumschlag, wo man kleine Nachrichten rein geben kann…. Es entstehen oft Bücher voller Erinnerungen oder Träumen, die doch nur so kurz waren. Mir ist es auch wichtig, die Familien auf anstehende Feste vorzubereiten. Das erste Weihnachtsfest ohne das Kind, der erste Geburtstag. Wir überlegen gemeinsam, wie sie diesen Tag gestalten können, und überlegen aber auch, welche Gefühle dabei hochkommen können und was ihnen da gut tun könnte. Da gibt es auch kein Patentrezept. Kein richtig oder falsch. Es ist immer ein Austasten und Ausprobieren.

Candlelight-Gottesdienst: Warum ist die Tradition immer am 2. Sonntag im Dezember wichtig?
Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember stellen Familien, die ein Kind verloren haben, gegen 19 Uhr eine brennende Kerze ins Fenster ihres Hauses. Dieser weltweite Candlelight-Tag findet schon seit vielen Jahren statt. Das Licht, das so um die Welt geht, steht dafür, dass diese Kinder nicht vergessen sind. In diesem Kontext ist unser Gottesdienst eingebettet. Verwaiste Eltern treffen sich hier zu Musik, Gebet, Trauer und gemeinsamen Austausch. Dieser Abend des Gedenkens ist für viele Eltern sehr wichtig. Gerade in der Adventszeit, wo sich alle auf Weihnachten freuen und Trauer kaum einen Platz hat, gehört die Trauer doch für Familien, die ein Kind verloren haben zu ihrem Leben.

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